Lisa Palmes hat die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk ins Deutsche übertragen
Übersetzen ist wie Haareschneiden
Greven/Berlin
Sie ist ausgebildete Friseurin und studierte Polonistin. Lisa Palmes, Enkelin des Grevener Landschaftsmalers Wilhelm Palmes (1903-1982), hat Bücher der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk sowie von Joanna Bator, Wojciech Jagielski, Lidia Ostałowska, Filip Springer übersetzt.
Als sie unser Redaktionsmitglied Günter Benning interviewt, sitzt sie in einem Raum voller Karteikästen mit hand- oder maschinenschriftlichen Wörterbucheinträgen im Zentrum für Digitale Lexikographie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Können Sie sich an ihren Großvater erinnern?
Palmes: Er ist gestorben, als ich sieben war. Aber es war enorm beeindruckend, ihn in seinem Atelier an der Königstraße 65 an der Staffelei zu sehen. Einmal durfte ich ihm helfen: Eine Wolke auf die Leinwand tupfen.
Sie haben ihr Abi am Augustinianum gemacht. Wie wird man dann Polonistin?
Palmes: Eigentlich wollte ich Kunst studieren. Die erste Mappe wurde abgelehnt. Dann habe ich in Wien mit Philosophie angefangen. Das war mir zu realitätsfern – alle anderen Studenten waren schon über 30 und ich fürchtete, in zehn, 15 Jahren auch noch da zu sitzen. Danach habe ich eine Friseurlehre angefangen, quasi das Gegenteil von Philosophie. Eine Arbeitskollegin kam aus Kattowitz, sie hat mich öfter mitgenommen zu ihrer Großmutter. Eine imponierende Frau. Aber leider verstand ich nichts von ihren interessanten Geschichten und kaum einer sprach Englisch. Deutsch wurde damals in Schlesien noch von einigen älteren Menschen gesprochen, aber verständlicherweise äußerst ungern. Also habe ich angefangen, Polnisch zu lernen, inklusive eines Sommerkurses an einer polnischen Uni.
Alles, während Sie weiter frisierten?
Palmes: Ja, das habe ich freitags, samstags fortgesetzt, als ich mich in Berlin für Polonistik und Germanistik beworben hatte. Später habe ich im Schuhgeschäft gearbeitet. Ich bin ein praktischer Mensch, ich mag es, wenn die Dinge erledigt werden.
Ans Übersetzen sind Sie durch literarische Reportagen gekommen?
Palmes: Von dieser Gattung, für die die polnische Literatur berühmt ist – man kennt die Namen Ryszard Kapuściński und Hanna Krall – wird wenig ins Deutsche übersetzt, weil man hierzulande nicht weiß, ob diese Literatur Fiction oder Sachliteratur ist. Ich hatte angefangen, ein Buch zu übersetzen – „für die Schublade“, wie es so schön heißt –, aber ich habe nie einen Verlag dafür gefunden. Immerhin hat mir das aber andere Türen geöffnet, denn etwas später gelang es mir mit Wojciech Jagielski. Das Buch hieß „Wanderer der Nacht“, es geht darin um Kindersoldaten in Uganda. Zufälligerweise hatte der Transit-Verlag im Frühjahr 2010 das Thema „Afrika“.
Ist man als Übersetzerin auch Literaturagentin?
Palmes: Ja, weil es in Polen noch wenig Agenten gibt. Und wenige Übersetzer – wir kennen uns alle.
Wie kamen Sie zu Olga Tokarczuk?
Palmes: Sie hatte vorher Esther Kinsky als Übersetzerin und einmal auch Doreen Daume. Kinsky ist mittlerweile selbst Autorin, Daume ist leider verstorben. Also stand Olga Tokarczuk ohne Übersetzerinnen da und hatte seit Jahren nichts für den deutschen Markt geschrieben. Außerdem ist sie sehr kämpferisch, was Autorenrechte angeht. Das heißt, ihr Verhältnis zu den Verlagen ist manchmal schwierig. In dieser Lage wurde ich von Esther Kinsky gefragt, ob ich nicht eine Probeübersetzung von den „Jakobsbüchern“ – dem aktuellen Roman zur Zeit der Nobelpreisverleihung – machen könnte.
Veröffentlichen war trotzdem nicht einfach?
Palmes: Nein, habe das Buch zwei Jahre lang vergeblich angeboten. Immer hieß es, 900 Seiten, das geht nicht. Die Kosten für die Übersetzung sind ja sehr hoch. Als ich aufgeben wollte, ist mein Übersetzer-Kollege Lothar Quinkenstein mit eingestiegen. Am Ende kamen wir durch Zufälle an den neuen Kampa-Verlag, der auch die vergriffenen Übersetzungen von Olga Tokarczuk neu auflegen wollte. Lothar Quinkenstein und ich haben die „Jakobsbücher“ im Laufe von zwei Jahren übersetzt. Ein Glücksgriff für alle Seiten.
Vor allem, wenn man sich die zeitliche Abfolge ansieht?
Palmes: Ich hatte meine erste Lesung mit Olga Tokarczuk in Potsdam, einen Tag vor der Bekanntgabe der Nobelpreis-Entscheidung 2019. Lothar Quinkenstein war am Tag der Bekanntgabe selbst mit ihr auf einer Präsentation in Bielefeld. Das waren ergreifende Momente.
Da macht man als Übersetzerin drei Kreuzzeichen?
Palmes: Klar. Wir hatten fast drei Jahre einen Verlag gesucht. Und dann dies. . .
Hat der Preis die Verkäufe beflügelt?
Palmes: Ja, das Buch war nach zwei Wochen ausverkauft. Es war das erste Mal, dass wir etwas Nennenswertes von der Umsatzbeteiligung bekommen haben.
Jetzt sitzen Sie in der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Was machen Sie da?
Palmes: Ich habe hier eine 60-Prozent-Stelle als Lexikographin. Wir digitalisieren die Wörterbuchbestände und aktualisieren die Einträge. Ich arbeite in einer Gruppe, die sich mit Phraseologismen beschäftigt.
Wie bitte?
Palmes: Da geht es speziell um Redewendungen. Wir verfassen Definitionen und suchen Belege für die entsprechenden Wendungen aus riesigen Textsammlungen, vor allem aus Zeitungen. Jede Wendung wird mit etwa fünf Beispielen veröffentlicht. Das klingt sehr trocken. Aber ich liebe sowas, es macht wirklich Spaß.
Ist das wie übersetzen?
Palmes: Na, Definitionen zu schreiben ist ja eigentlich das Übersetzen von deutschen Ausdrücken ins Deutsche.
Haben Sie noch Beziehungen zu Greven?
Palmes: Meine Eltern wohnen nach wie vor in der Königstraße.
Wenn Sie an Greven denken, was fällt Ihnen als erstes ein?
Palmes: Der Regen. Und das angenehme platte Land zum Radfahren.
Wo leben Sie in Berlin?
Palmes: In Weißensee, ich habe früher in Kreuzberg gewohnt, aber das können sich Übersetzer mit zwei Kindern nicht mehr leisten.
Sprechen die Polnisch?
Palmes: Nein, aber ich selbst habe ja auch erst mit 25 Jahren damit angefangen.
Wollen Sie nicht mal selbst Romane schreiben?
Palmes: Ich glaube, dass Literaturübersetzen etwas völlig anderes ist als Literaturschreiben. Im Grunde kann ich die Parallele zum Friseurhandwerk ziehen. Das Material ist da – der Originaltext oder die Haare. Und mit diesem vorhandenen Material arbeitet man, natürlich verleiht man ihm auch die eigene Handschrift. Übersetzen ist eine sehr praktische Tätigkeit. Genauso praktisch wie Haareschneiden.
Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Kampa, Zürich 2019.
Startseite