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Erinnerung an die Goldenen Zwanziger und ihre Freiheiten

Schnoddrig und emanzipiert

Münster

Das Team der Ausstellung „Homosexualität_en“ im LWL-Museum kam bei der Bestuhlung mächtig ins Schwitzen. Mit 80 Besuchern hatte man gerechnet. Am Ende waren es knapp 200, die die Claire-Waldoff-Revue des Berliner Duos Sigrid Grajek und Stefanie Rediske zu Ovationen von den eilends aufgestockten Sitzen riss.

Wolfgang A. Müller

Solche Kleidung bei einer Frau! Sigrid Grajek (mit Pianistin Stefanie Rediske) als Claire Waldoff. Foto: Wolfgang A. Müller

„Sie brauchte gar nicht so zu brüllen – viel komischer ist sie, wenn sie im piano verzittert“, schrieb Kurt Tucholsky 1918 über einen Auftritt der Berliner Chanson-Urgewalt. „Und obgleich sie nur schnoddrig ist, so ist sie dies als Spezialistin vollkommen. Ich möchte nicht der Engel sein, der dieses arme Seelchen einst am Auferstehungstag aus dem Grab holt. Es möchte mich nicht sehr fein begrüßen . . .“ Die Schauspielerin und Kabarettistin Sigrid Grajek hat sich dennoch getraut, der 1957 verstorbenen Künstlerin ein zweites Leben einzuhauchen. In der biografischen Revue „Ich will aber gerade vom Leben singen“, am Flügel furios begleitet von Stefanie Rediske, schlüpfte sie in die Rolle des furchtlos unkonventionellen Stars von einst, der durch seinen Emanzipationswillen durchaus als Prototyp für „die moderne Frau“ gelten darf.

Auch sie tritt im Anzug mit Krawatte auf, Waldoffs typischem Outfit, das 1907 den Zensor geifern ließ: Solche Kleidung bei einer Frau! Zudem noch nach 23 Uhr! Später wird sich Marlene Dietrich davon inspirieren lassen. Komponisten und Autoren wie Walter und Willy Kollo oder Rudolf Nelson waren gleichfalls entzückt und versorgten die herbe Chansonette, die seit 1917 offen in lesbischer Beziehung lebte, mit vor Pointen sprühenden Schlagern und Gassenhauern. „Wegen Emil seine unanständige Lust“, das schon 1929 kosmetische Chirurgie problematisierte, „Raus mit den Männern aus dem Reichstag“ oder der Lobgesang auf Hannelore mit der Bob-Frisur setzten den Saal unter Dampf und Gelächter.

Grajek interpretierte dieses immer noch erstaunlich hitverdächtige Material und auch leisere Seiten der Volkssängerin nicht nur werkgetreu, mimisch großartig und mit gepfefferter Altberliner Schnauze. Durch ihre kongenialen Überleitungen entstand eine packende Gesamtschau, die die fast vergessenen gesellschaftlichen und kulturellen Freiheiten der „Goldenen Zwanziger“ beschwört. Nur zurückzuschauen und ins Private auszuweichen gelte aber nicht, betont Grajek-Waldoff schließlich. Und dann stimmt der ganze Saal mit ihr den skurrilen Schlager „Wer schmeißt denn da mit Lehm“ an.

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