1. www.muensterschezeitung.de
  2. >
  3. Lokales
  4. >
  5. Muenster
  6. >
  7. Prozess gegen Nuradi A.: Staatsanwalt fordert fünf Jahre Jugendhaft und Entzug

  8. >

Tödliche Schläge beim CSD

Prozess gegen Nuradi A.: Staatsanwalt fordert fünf Jahre Jugendhaft und Entzug

Münster

Geht es nach der Staatsanwaltschaft, bekommt der CSD-Täter fünf Jahren Haft und wird in eine Entzugsklinik eingewiesen. Am Dienstag wurden die Plädoyers im Prozess um die tödlichen Schläge gegen Malte C. gesprochen. Erstmals gab es Details zum Täter.

Von Gunnar A. Pier

Nuradi A. (hier mit seinen Anwälten Ulrike Baumann und Siegmund Benecken) hat gestanden, am Rande des CSD im August 2022 den Transmann Malte C. erschlagen zu haben. Am Mittwoch fällt das Urteil. Foto: Gunnar A. Pier

Bislang wurden immer dann, wenn es um den Angeklagten Nuradi A. ging, die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Das hatten seine Anwälte Ulrike Baumann und Siegmund Benecken beantragt – im Wesentlichen mit der Begründung, dass der 21-Jährige homosexuell sei, was niemand wissen solle. Womit es dann doch jeder wusste.

Deshalb durften die Zuschauer im Saal bleiben, als beim sechsten und vorletzten Verhandlungstag eine Gutachterin und die Jugendgerichtshilfe Details zu dem Mann ausführten, der die tödlichen Schläge von Beginn an gestanden hatte.

Psychiaterin stellt Bericht über den Angeklagten vor

Nach Angaben der Psychiaterin Martina Redeker, die nicht nur Akten ausgewertet, sondern auch dreimal in der Justizvollzugsanstalt Herford mit dem Angeklagten gesprochen hat, leidet Nuradi A. seit Kleinkindzeiten an schweren Depressionen. Gelitten habe er von klein auf unter der Gewalttätigkeit seines Vaters, der Hilflosigkeit seiner Mutter und später der lebensbedrohenden Leukämie-Erkrankung seiner kleinen Schwester. Die war auch der Grund dafür, warum die Mutter mit ihren drei Kindern aus Tschetschenien nach Deutschland kam. Dort lebte sie die meiste Zeit mit der Tochter in der Klinik – Nuradi kümmerte sich in einer Flüchtlingsunterkunft um seinen kleineren Bruder.

Psychische Probleme und Angst vor Abgrenzung

Immer stärker seien über die Jahre seine psychischen Probleme geworden. Er habe kaum noch das Haus verlassen, weil er Angst vor Menschen entwickelt habe. Als ihm mit etwa 14 Jahren klar geworden sei, dass er homosexuell ist, sei die Angst vor Abgrenzung und gesellschaftlicher Ächtung immens gewachsen, „das war fast paranoid“.

Etwa mit 16 Jahren habe er die „angstlösende Wirkung“ von Alkohol und Cannabis entdeckt. Doch insbesondere im Zusammenwirken mit dem Medikament Pregabalin („Lyrica“), das Nuradi erst nach ärztlicher Anleitung, später aber überdosiert als Droge nahm, werde er aggressiv. Mehrfach sei er bereits durch Körperverletzungen aufgefallen – insbesondere, wie jetzt, durch Faustschläge ins Gesicht.

Schuldfähigkeit nicht eingeschränkt

Eine „Einschränkung der Steuerungsfähigkeit“, die eine verminderte Schuldfähigkeit bedeuten könnten, sieht die Psychiaterin derweil nicht, denn am Tatabend war der damals noch 20-Jährige mal extrem aggressiv, mal aber auch entspannt. Das jedenfalls hatten verschiedene Zeugen an den vorangegangenen Verhandlungstagen geschildert. Auch habe Nuradi A. trotz seiner folgenschweren Mischung als Bier- und Lyrica-Konsum allenfalls einen angetrunkenen Eindruck gemacht.

„Keine Hinweise auf eine transfeindliche Haltung“

Von Beginn an im Raum stand die Frage, ob der Täter aus queer-feindlichen Gründen zuschlug – sein späteres Opfer war ein Transmann. „Es gibt keine Hinweise auf eine transfeindliche oder homophobe Haltung“, betonte die Gutachterin. Auch die Theorie, er zeige sich homophob, um seine eigene Homosexualität zu verbergen, nannte sie „spekulativ“.

Die Psychiaterin riet zu einer mindestens zweijährigen Therapie. „Die Erfolgsaussichten sind gut.“ Ansonsten seien weitere Straftaten wahrscheinlich: „Es muss davon ausgegangen werden, dass er erneut in Erscheinung tritt.“

Verurteilung nach Jugendstrafrecht?

Ähnlich stellte die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe den Angeklagten dar. Sie riet zu einer Verurteilung nach Jugendstrafrecht. Das ist bei „Heranwachsenden“ zwischen 18 und 21 Jahren möglich, wenn es ihnen an Reife fehlt. Das sei bei Nuradi A. zweifellos der Fall – der einen Großteil seiner Jugend durch seine familiäre Situation und die Flucht aus Tschetschenien verlor, deutliche Entwicklungshemmnisse zeige und bis zuletzt bei seiner Mutter wohnte.

Heranwachsende: Zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht

Oberstaatsanwalt Dirk Ollech

Oberstaatsanwalt Dirk Ollech fasste noch einmal die Ereignisse vom Tattag zusammen. Wie Nuradi mit einem Freund am Rande des Christopher Street Days drei Teilnehmende beleidigte, auf deren Zurückweisung aggressiv reagierte. Wie Malte dazu kam, um den Frauen zu helfen, wie Nuradi zweimal zuschlug, sodass Malte bewusstlos umfiel und mit dem Hinterkopf aufschlug. Sieben Tage später starb er im Krankenhaus. „Er nahm schwere Verletzungen billigend in Kauf“, so der Vertreter der Anklage. „Dass er ihn töten könnte, hat der Angeklagte in dem Moment nicht geglaubt“, betonte er. Einen sogenannten „Tötungsvorsatz“ schließe er aus – deshalb wurde Nuradi ja auch wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt, nicht wegen Mord oder Totschlag.

"Tat war für ihn vorhersehbar"

Für den Angeklagten spreche sein Geständnis. Dass er betrunken war, entlaste ihn aber nicht. Weil er gewusst habe, dass er unter dem Einfluss von Alkohol und Lyrica immer wieder gewalttätig werde, sei die Tat „für ihn vorhersehbar“ gewesen. Der Oberstaatsanwalt plädierte für eine Jugendstrafe von fünf Jahren sowie die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.

Ein Weg, mit dem Verteidiger Siegmund Benecken sich anfreunden könne, wie er betonte: „Er muss von Alkohol und Drogen wegkommen“, sagte er. Und das wolle der Angeklagte auch. Zudem bestehe die Chance, dass er nach erfolgreicher Therapie eine Duldung für den Aufenthalt in Deutschland erhalte. Das sei ein wichtiger Punkt, denn sein homosexueller Mandant fürchte eins mehr als alles andere: die Abschiebung ins auf brutalste Weise queer-feindliche Tschetschenien.

Das Urteil soll am Mittwoch, 22. März 2023, fallen.

Startseite
ANZEIGE